Die Stille des Burgwächters
Punkt neunzehn Uhr schnauft er humpelnd die grauen Steinstufen
hinunter. Sein Zimmer ist unter dem spitzzulaufenden Turmgiebel.
Der einzige, bewohnte Raum der trotzigen Burg.
Unten angekommen, winkt ihm der letzte Tagesbesucher zu und
verschwindet im dämmernden Wald, hangabwärts.
Er mag es, wenn wieder Friede in die alten Mauern einkehrt. Dann
ist er mutterseelenallein hier oben, auf der lichten Krone des Waldes.
Durchstreift alle Räume, Gänge. Erker, die zwei Aussichts-Plattfor-
men, das Kellergewölbe, das römische Bad. Dampfbad...Das immer
zuletzt, weil sie dort auf ihn wartet. Das Schönste vom Tage...Er und
Reja...Eigentlich eine etwas längere Geschichte - und doch auch in
Kürze erzählbar...Igor strandete vor Jahren im nahe gelegenen Ort
als Kriegsversehrter. Sein linkes Bein endet am Knöchel. Den Fuß
hatte ihm eine russische Mine im Krieg zerfetzt.
Er hatte nichts mehr - nur sich selbst. Er verließ die von Tyrannen be-
setzte Heimat schließlich in Richtung Westeuropa. Hier, im Nachbar-
ort angekommen, faszinierte ihn die mächtige, darüber liegende Trutz-
burg auf Anhieb. Offenbar wollte sie niemand mehr instand setzen,
weil sie längst an allen Ecken und Enden moderte und ächzte. Ständig
rollte Sand und brechendes Gestein zu Tal. Ein paar Jahre noch, dann
wird sie nicht mal mehr für Besucher begehbar - und einsturzgefähr-
det sein.
Er erkundigte sich nach eventuellen Grundbesitzern; fand sie schließ-
lich auch und bat darum, kleines Eintrittsgeld von Gästen nehmen zu
dürfen. Das würde er zu zwei Drittel an die Besitzer weitergeben - nur
einen kleineren Teil für sein anspruchsloses Leben behalten.
Seine zweite Bedingung war eher auch Bitte: in einer der oberen Burg-
kammern wohnen zu dürfen.
Der Burgherr ging nur zu gern darauf ein; hatte er doch ohnehin keiner-
lei Interesse, noch irgendwas an dem stetig weiter zerfallenden Burg-
Ungetüm auszubessern. Das würde Riesensummen verschlingen. Wa-
rum also nicht Eintrittsgelder kassieren, solange die alten Mauern noch
hielten?
Gedacht, gesagt, getan.
*
Igor hat inzwischen das Burgtor verschlossen, alle Innentüren zugezo-
gen. Einige der monströs dicken Holztüren mit Eisenbeschlag im unte-
ren Teil lässt er offen, oder angelehnt. Von dort kommt Reja zu ihm -
jeden Abend, über Nacht. Immer trägt sie das dünne, weiße, bodenlan-
ge Gewand, das bei jedem ihrer Schritte beruhigend raschelt.
Er sitzt wartend ganz unten, auf kühlem, grauen Gestein, im Dampfbad.
Ein altehrwürdiges römisches Bad, das schon soviele Wunden reinigte.
Das eingelassene, grünlich schimmernde Wasser im Becken dampft
wahrhaftig. Der ganze, mittelgroße Raum ist erhellt - wie angezündet.
Leben spürt man darin. Ölfackeln lodern von silbern funkelnden Ble-
chen. Wasserdampf steigt auf, zieht in jeden Raumwinkel; wärmt alles:
die hölzerne Bank am Beckenrand, den über Tag ausgekühlten Boden,
Wände und den langsam abblätternden Deckenputz. Auch Reja und
ihn wärmt der auf - und abschwebende Rauch des Wassers durch und
durch.
Sie sprechen kaum. Eigentlich spricht nur Igor gelegentlich. Aber Reja
versteht ihn. Jedes seiner Worte nimmt sie wahr. Dann wiegt sie ihren
bleichen Kopf an seiner Schulter, streckt die Füße aus, ins viel zu hei-
ße Wasser. Es macht ihr nichts aus. Je mehr Hitze, desto besser. Sie
lächelt einfach stumm und vergisst, daß sie immer nur an den Abenden
für sich zusammen sein können.
Lange, laute Stille entsteht. Dann packt Igor, wie so oft, Frieren und
heftiges Zittern. Das bittere Gift des Erinnerns an jene Morgenstunden
schlägt unbarmherzig zu... > Da draußen sind sie, die wilden Tiere!, <
schrie er gellend.
Reja - nur mit dünnem, weißen Nachthemd bekleidet, klammerte sich
an ihn. Dann stürzten sie aus dem Haus, das fast gänzlich in Schutt und
Asche war. Draußen, auf der Straße, peitschten Schüsse aus dem Hinter-
halt. Reja hielt ihn noch umschlungen. Sah ihn mit fragenden Augen
an. Dann brach ihr Blick und sie sank kraftlos nieder....
*
Sie legt ihren Einkauf auf das Band im Supermarkt, als ihr plötzlich die
Packung Tee aus der Hand fällt. Der Mann, der direkt hinter ihr steht,
macht ihr Angst. Sie kann unmittelbare Nähe nicht mehr ertragen seit
damals, als die Kugeln sie trafen und ihr die Soldaten zu nahe kamen,
als sie schwer verletzt wehrlos am Boden lag. Reja bezahlt überstürzt
und stürmt hinaus ins Freie.
Zitternd nimmt sie auf der nahestehenden Bank Platz und wischt sich
aufsteigende Tränen aus den Augen. Der einzige Mensch, dem sie ver-
trauen könnte, wäre Igor, aber der lebt nicht mehr. Seit der Flucht aus
dem Krieg, in dem beide Verletzungen erlitten hatten, verliefen sich ih-
re Wege. Alle Versuche, Igor wiederzufinden, schlugen fehl. Irgend-
wann kam dann die Nachricht von seinem Tod.
Hier, in der warmen Frühlingssonne kommt sie zur Ruhe. Sie greift nach
der Zeitung, die zerflettert neben ihr liegt und ordnet sie so, dass sie die
Seiten, die sie interessieren, gut lesen kann. Börsenberichte, Wirtschaft,
Politik, Feuilleton, Familienanzeigen, Reiseberichte...alles überfliegt sie.
Plötzlich fasziniert sie ein Foto, das eine alte, düstere Burg zeigt. Mys-
tisch ragt diese gewaltig aus dichtem Wald zum Himmel empor.
Neugierig geworden, liest sie gebannt den Artikel über den sonderbaren,
hinkenden Burgwächter, der allabendlich vor den knarrenden Toren auf
seine Liebste wartet....
Entsetzt springt sie auf: „Igor!´´ Das kann nur er sein. Ihre große Liebe –
er lebt!
Das Herz klopft ihr bis zum Hals und mit Zeitung und Einkaufstasche
eilt sie nach Hause.
Wie lange hatte sie davon geträumt, ihn wiederzusehen. Hatte man seinen
Pass vertauscht, als man ihr die Todesnachricht übermittelte? Oder irrt sie
sich und er ist doch nicht der Mann auf der Burg?
Während sie den heißen Dampf aus der Teetasse betrachtet, beschließt sie,
dorthin zu fahren und den Einsiedler zu treffen. Wie gern würde sie sich
an ihn schmiegen – seine Wärme spüren und seine Hände, die so wohltu-
end über ihre Haut streicheln konnten. Er mochte besonders ihre Brüste.
Zweifel befallen sie: da, die hässliche Narbe, die sich jetzt quer über ihren
Oberkörper schlängelt....Sie streicht bebend darüber hin; versucht ein trot-
ziges Lächeln.
*
Als er an jenem kühlen Morgen, pünktlich um acht Uhr, das Burgtor auf-
schließt, um Besucher einzulassen, spürt Igor schon unermesslich, daß die-
ser Tag ganz anders werden würde, als alle Tage vorher...
Erzählung: (c) Ingrid Bezold & Ralph Bruse
Foto: Ingrid Bezold