Die Tür bleibt zu
Ein schöner, nicht zu warmer Tag im August, neigte sich.
Leo läuft fröhlich pfeifend die Straßen in Zentrum-Nähe entlang. Mit
Blumen in der Hand. Zwei Lilien. Lena liebt Lilien. Die mit den gro-
ßen, dunkelroten Kelchen, aus denen dünne, gelbe Zungen nach au-
ßen drängen - genau die mag sie.
Hansemannstraße vier. Er stoppt, pfeift noch immer vor sich hin,
drückt auf den Klingelknopf, ganz oben, links.
Charme, steht da. Lena Charme. Schon der Name verspricht vieles, bis
alles.
Er wartet.
Und wartet. Drückt erneut die Klingel. Irgendwo, weiter oben, klappt
ein Fenster auf und zu. Das könnte sie gewesen sein. Leos Pfeifen ver-
stummt. Ist sie etwa immer noch sauer...?
Ja, ist sie immer noch, wegen neulich, als sie über eigentlich banal All-
tägliches stritten, wie er sofort an der Stimme in der Gegensprech-Anla-
ge heraushört.
> Was willst du, Leo? <
> Dich sehen, Spatzi. <
> Ich will dich aber nicht sehen. Und hör auf mit deinem Spatzi! <
Er muß spontan umdenken; muß anders an die verfahrerene Situation
herangehen...Die Blumen - na klar. Ihre Lieblings-Blumen!
> Lass mich nur kurz rein, damit ich dir eine kleine Wiedergutmachung
vor die Wohnungstür legen kann. Dann geh ich auch gleich wieder. <
Kurz ist es still. Sie denkt immerhin darüber nach. Wie gut, daß Neu-
gier in den meisten Fällen doch Oberhand gewinnt.
Es knackt in der Sprechanlage.
> Nein, ich lass dich nicht rein. Wir sind nur noch gute Freunde. So war
es abgemacht. <
Wieder eine Sprechpause. Dann:
> Was hast du denn mitgebracht? <
Sag ich nicht, denkt Leo.
Sagt dann aber: > Deine Lieblings-Blumen. <
> Pfffft, < kommt ihre ernüchternde Antwort geflogen. > Die kannst du
auch vor der Haustür liegenlassen. Hole ich dann später. Wenn du weg
bist, < fügt sie schnell und deutlich energischer hinzu.
> Aber Spatziiii...<
> Geh, Leo. Ich hab zu tun - bin am Backen und will nachher noch un-
ter die Dusche. <
Dann ein plötzlicher Lichtblick.
> Sag mal, wie lange lässt du den Nusskuchen immer im Ofen? <
Gute Frage, überlegt Leo. Sehr gute Frage!
> Exakt 75 Minuten. Nach Rezept. Du kannst ihn aber auch schon nach
einer Stunde rausholen, dann ist er noch gut saftig und nicht zu dröge. <
Dranbleiben Leo, denkt er geistesgegenwärtig. Jetzt bloß dranbleiben
und nicht lockerlassen!
> Gib kurz vor dem Rausholen noch zwei, drei Esslöffel Eierlikör hinein.
Der Hauch von Eierlikör-Geschmack ist die Krönung des Ganzen. Und...<
Weiter, Leo! Es läuft. Jetzt kommt es auf gutes Timing an.
> Wenn der dann langsam auf dem Tisch kühlt, kannst du ja schon mal
unter die verdiente Dusche huschen, meine Schöne. <
Jetzt bloß kein Spatzi hinterher. Darauf reagiert sie heute extrem aller-
gisch.
> Und während du dich duschst, kann ich ja schon mal die zwei Hübschen,
hier, in deine Vase stellen und nach dem Kuchen schauen und Kaffee für
uns beide aufbrühen. Und dann kommst du pudelnackig an den Tisch - und
wir...<
> Ja...?, < kommt sie ihm dazwischen.
> Na ja, wir kosten vom Kuchen, der der beste der Welt ist, ich schau dir in
den herrlichen Ausschnitt des Bademantels, den du inzwischen angezogen
hast. Also: zuerst schau ich natürlich in deine unergründlichen Augen und
erst dann weiter nach unten, während wir vom Kuchen naschen. <
Weiter. Vorwärts, Leo! Seine Lippen kommen dem Klingelknopf nahe. Die
Zunge schießt vor. Er leckt in heller Vorfreude am Knopf.
> Da verirrt sich doch glatt eine Stubenfliege im Zimmer, die ebenfalls ein
paar Krümel abhaben will und an deinem Mund nascht...Aber für ungebe-
tene Gäste ist ja Leo zuständig, der dir ruckzuck zu Hilfe eilt, den dreisten
Flieger vertreibt, dir die restlichen Krümel vom Mund wegnascht, dir den
Nacken massiert, den Bademantel behutsam abstreift, wegen der besseren
Sicht auf alle deine reizenden...<
> Jaaaa?, < unterbricht sie ihn wieder.
> Ja, also, < kommt er etwas ins Trudeln. > Ich trage dich rüber, zur Couch,
komme zu dir, du spitzt deine feuchten Lippen, schaust mich fordernd an,
ziehst mich hinab, und...<
Es knackt in der Sprechanlage.
Hat sie etwa...?
Hat sie. Ende der Durchsage. Pustekuchen. Sie lässt ihn tatsächlich mit
Zelt im Schritt hier unten stehen.
Er lässt den Kopf hängen; sollte jetzt eigentlich fuchsteufelswild werden.
Wird er aber nicht. Da ist nur ein Hauch von Verbitterung, der ihn durch-
weht.
Er steckt die Lilien in ihren Briefkasten. Mit den Stengeln nach unten. Die
hübschen Blüten passen nicht rein. Er lässt sie aus dem Schlitz rausschauen.
Sieht auch ganz nett aus, muß er sich eingestehen.
Im Weggehen sieht er Licht in ihrer Küche brennen. Zwei Leute erkennt er
oben, im Fenster. Lena...und. Er kneift die Augen. Etwa der eitle Lackaffe
Namens Steffen von neulich, beim Klassentreffen? Lenas Jugendliebe?
Ja, genau der.
Arschloch!
Doch etwas Zorn. Nur ein bisschen, der ihn kurz überrumpelt. Leo kommt
jedenfalls zu dem eindeutigen Fazit: Kuchenrezepte über die Sprechanla-
ge austauschen ist völlig unnötig - weil zeitraubend. Nächstes Mal backt er
selbst und bringt den fertigen Nusskuchen gleich mit. Den kann er nämlich
mindestens genauso weltmeisterlich backen, wie Lena. Und dann: Sesam
öffne dich - schon geht ihre Tür auf, weil sie dem Naschwerk nicht wider-
stehen kann.
Freundschaft hin, oder her: echte Freunde wissen einen guten Kuchen im-
mer zu schätzen und sind auch bei Fremdbesuch füreinander da.
Er kratzt sich im Nacken.
Oder etwa nicht?
Er lächelt angestrengt.
Blöde Frage!
Leo steht noch eine Weile wie angewurzelt da. Das nutzt ein vorbei streu-
nender Hund gründlich aus und pinkelt ihm ans Hosenbein. Er kann dem
Streuner nicht böse sein; streichelt dem Tier sogar das verlauste Fell. Der
Köter folgt ihm noch eine ganze Weile durch die Innenstadt - will ihm gar-
nicht mehr von der Seite weichen. Wie zwei, die sich suchten und dann
doch irgendwo im Getümmel wieder verlieren, um ihren Weg allein zu fin-
den: ein tröstliches Bild.
(c) Ralph Bruse