An manchen Tagen
Seine Schritte knirschen auf glitschigen Blättern.
November. Regen nieselt durch kahlwerdende Baumkronen. Keine zehn
Meter weit kann man sehen.
> Pampe, elende!, < knurrt Henner miesgelaunt; wischt sich klebrige Netz-
gebilde vom Gesicht. Damit nicht genug. In störrischer Nachdenklichkeit,
die ihn bestens im Griff hat, übersieht er eine tiefe Pfütze - tritt hinein;
rutscht zu allem Überfluss aus; klatscht der Länge nach hin; verflucht Gott,
alle Welt und sich selbst; rafft sich auf und stakst heftig frierend weiter.
Die mickerigen Holland-Blumen, die er mitbrachte, sind hin.
Sein Blick geht in die Runde.
Keiner da.
Er schleicht sich seitwärts an ein frisch verschlossenes Erdloch, auf dem
reichlich Blumen und Kränze liegen. Henner schnappt sich eine wunder-
schöne, langstielige Rose. > Sorry, < brabbelt er. > Ist ´n Notfall. <
Plötzlich nähern sich Schritte.
Wie ein geprügelter Hund springt er davon. Erst nach etwa drei-vierhun-
dert Metern bleibt er keuchend stehn. Niemand folgt ihm.
Mit großer Verspätung kommt er schließlich ans Grab seiner Großeltern;
lehnt die Rose an´s dünne, vermooste Holzkreuz und flüstert: > Haste
schon mal so ´ne Schönheit von mir gekriegt, Oma? Nee, glaub nicht, <
plappert er munter weiter. > Opa kam ja auch immer nur mit Astern an,
die er den Schulzens für lau abgeluchst hatte...Nee - die hier ist was rich-
tig Edles, Oma...Jede Wette, daß sie nie verblüht! <
Das war scherzhaft gemeint, aber kaum hatte er die Worte gesprochen,
hob der Wind an. Blätter segelten umher. Die Sonne - seit Wochen im
´Ruhestand´ - blinzelte durch hohe Bäume. Henner ist, als würden sei-
ne klatschnassen Kleider binnen Minuten in warmer Sommerbrise trock-
nen. Jetzt ist aber November.
Wenige Momente lang ist der tiefgraue Tag in Händen einer magischen
Zauberin, so scheint es ihm. Wassertropfen funkeln wie Edelsteine aus
Sträuchern und an Zweigen. In Rhododenbüschen knackt es leise und
Gräber dampfen flirrend in diffusem Licht. Flüchtige Momente nur -
schon stirbt er hin, der kurze Tagtraum.
Henner seufzt. > Tschüß, < sagt er, noch immer am Grab stehend, weil
er sich nicht abwenden kann, oder will.
Schließlich doch.
> Ich komm´ bald mal wieder. Versprochen. <
Nach nur zwei Schritten stoppt er. Er vernimmt deutlich ein Rascheln
hinter sich...Schaut sich um. Die Rose ist umgefallen. Er stellt sie wieder
auf; geht. Dann ein dünnes Wispern, das trotz knirschender Schritte auf
Laub nicht zu überhören ist. Nein, kein Wispern, sondern Stimmen.
Er stoppt abermals. Sieht niemanden. Und auch die Rose steht wie ge-
habt am alten Platz.
Henner schüttelt den Kopf.
Die Flüsterstimmen verstummen erst, als er sein Zuhause erreicht.
Wochen danach - um die Weihnachtszeit - geht er wieder mal zum
Friedhof. Irgendeine zwielichte, innere Unruhe sagt ihm, daß da drau-
ßen irgendwas nicht so ganz stimmte, neulich – oder doch auf unbe-
stimmte Art stimmt. Diesmal hat er aus Tannenzweigen einen Kranz
geflochten, den er seinen geliebten Großeltern hinbringt.
Vor zwei Tagen war der Winter gekommen und mit ihm der erste
Schnee. Aus matschumschlingerten Pfützen wurden Schlitterbahnen,
und alte Bäume erstarrten zu weissen Riesen. Da drüben, hinter Wohn-
stubenfenstern, konnte man von draußen zusehen, wie Leute Zimmer
und Tannen schmückten.
Hier jedoch ist es einsam und eher ungemütlich. Kein Piep ist zu hören.
Nicht das leiseste Mucksen. Kein Baum knarrt. Kein Vogel ruft. Tiefste
Stille nur. Alle Welt, hier draußen, ist in Frosthänden gefangen. Somit
will sich bei Henner auch kein Feiertagsfriede einstellen. Nur seiner
Großeltern erinnert er sich etwas beruhigt - denkt daran, als sie immer
für ihn da waren. Vor allem Großmutter mochte er über alles. Bildhaft
sieht er ihre großen, runzligen, warmen Hände, die ihn oft streichelten,
wenn er Riesenkummer hatte, der in Wahrheit eher klein war. Die mei-
ste Zeit der Kindheit hatte er im Haus der Großeltern zugebracht. Groß-
vater süffelte gern und zu oft einen über den Durst. Deshalb holte ihn
der liebe Gott wohl auch ein paar Jährchen früher. Oma fühlte sich seit-
dem ziemlich alleingelassen; also lief der Knirps Henner eines Tages zu
ihr und blieb einfach da - bis auch sie verstarb.
2.
An ihrem Grab legt er nun den Kranz nieder. Dabei spaziert sein Blick
seitwärts. Durch hartgewordenen Schnee kämpft sich - herrlich anzuse-
hen in trister Umgebung - eine blühende Rose ins Licht.
Ein harscher Winter - aber sie wächst und gedeiht prächtig...Eine wahre
Augenweide. Dennoch erfasst Henner leichtes Schaudern. Die Blume,
die er einst vom Nachbargrab stahl...Trotzig prahlt ihr tiefroter Blüten-
kelch. Und es scheint gar, als würde sie in eisiger Luft duften wollen.
Wahrhaftig...feinsüsslicher Duft becirct all seine Nasenhäärchen.
Und sie regt sich sogar - wippt fast unmerklich, aber deutlich sichtbar
hin und her, als wolle sie noch viel mehr, als nur die Fesseln aus hartem
Schnee abschütteln. Die Blüte: wie geöffnete, zittrige Lippen - taumelt
empor; streckt und streckt sich...ihm entgegen. Zartes Wispern, das ei-
nem menschlichen Seufzen ganz nah kommt, umfängt ihn. Er wagt nicht,
sich zu bewegen. Erschrocken und zugleich tief berührt, hockt er da, am
Grab - fühlt es warm in seine kalten Glieder aufsteigen.
Sie wächst weiter – wie im Zeitraffer - wird groß; ja riesig! Nähert sich
seinem glühenden Gesicht. Berührt es...
Er hat Angst. Ganz plötzlich schnürt ihm Angst die Kehle zu. Er springt
auf. Läuft weg. Kann nicht anders. Muss rennen!
3.
Das Frühjahr kam.
Und im Sommer umschlangen unzählige Dornenrosen die Grabstelle
seiner Großeltern. Das Grab daneben, wo er einst die Rose stahl, ist in-
zwischen eingeebnet worden. Kein Grün mehr. Keine Blumen. Nur glatt-
polierter, schwarzer Marmor mit weisser Inschrift. Trostlos. Aber nur
wenige Meter weiter umarmen hunderte rote Blüten Erde, Holzkreuz und
die Namen seiner Großeltern. Dabei war es doch nur eine einzige, stolze
Rose, die damals nicht sterben wollte und hier Wurzeln schlug.
Keine Angst mehr. Kein Schwermut.
Nur stiller Dank.
Ein letzter Gruß noch.
Er wischt die Tränen fort.
Geht lächelnd.
Erzählung: © Ralph Bruse
Bild: foxbackdrop.com