geb. 1986
Prosaist und Journalist. Studium der Bibliothekswissenschaft
an der Staatlichen Universität Baku. Derzeit Mitarbeiter der
Aserbaidschanischen Presseagentur (APA).
Das Sakko des Geografielehrers
Es war einmal ein Fluss mit dicht wucherndem Gebüsch und starken Baumstämmen am Ufer. Dieser Fluss floss durch Dörfer, die sich im Herbstnebel verloren. Es war einmal ein Dorf am Flussbett, das war ganz klein. An seinem unteren Rande stand ein kleines, geducktes Haus mit einem baufälligen Dach. Hier lebten vier Personen: ein Mann, eine Frau und zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Ich möchte von diesem Mann, von dieser Frau erzählen, und von diesen Kindern, die so süß waren wie kleine Welpen. Der Lehrer İbrahim war so besorgt und nachdenklich nach Hause gekommen, als ob der sonst geräuschvoll hereinplatzende Mann, der Murad jedes Mal zunickte und Məryəm an den Zöpfen zog, auf der anderen Seite des Flussufers zurückgeblieben wäre; als ob seine vom herbstmatsch verschmutzten schuhe den Kummer ihres Trägers, des Dorflehrers, teilten. Genauer hingeschaut, hätte man sehen können, wie sich ein Paar Schuhe am Fuß der Treppe wie aus Kummer ineinander verkeilte. Unser Geografielehrer betrat das Zimmer am Ende des Ganges. Er warf sein Sakko über den Stuhl, löste die Krawatte und zog sich die Weste aus. Nərgiz, seine Frau, stand in der Tür, die Kinder neben sich. Ängstlich und stumm wie die Fische standen sie da. Was war bloß mit ihrem Mann los? Warum sprach er nicht? Nərgiz war müde. Sie seufzte, und ihre Seufzer streiften die Gesichter der Kinder. Aus dem Zopf des Mädchens löste sich eine Schleife, der Junge verschluckte sich. Er blickte der Mutter von unten ins Gesicht und schmiegte sich an ihr Knie.
Im Zimmer wühlte İbrahim in den Taschen seines Sakkos.
„Onkel Əliş war ein bekannter Bauer im Dorf“, sagte der Junge.
„Die Ernte war die Freude seines Herzens“, sagte das Mädchen.
Von draußen hörte man die Truthähne kollern, die Hähne krähen und enten schnattern. Die stimmen der Kinder waren wie kaltes Wasser, und Nərgiz folgte der stimme ihres Herzens. Sie stimmte in das Geschnatter der Truthähne, Hähne und enten ein, bis sie das Stimmengewirr übertönte:
„Du, Mann ...!“
„Ich habe Geld verloren!“
Nərgiz schwieg.
„Ich spreche von dem Geld, das ich der Lehrerin Xədicə geliehen hatte und das sie mir zurückgab. Ich hatte es in meine Tasche gesteckt, bin in die Schule gegangen und hielt meinen Unterricht. Aber als ich auf dem Rückweg etwas für die Kinder kaufen wollte, war es verschwunden.“ Nərgiz seufzte. Sie schaute verwirrt in das Gesicht ihres Mannes und wusste nicht, was sie sagen sollte. Vielleicht hätte sie sagen können: „Macht nichts! das Wichtigste ist, dass du da bist!“ Aber wenn man in solch schwierigen Zeiten Geld verliert, ist das etwas anderes. Es ist unmöglich, sich keine Sorgen zu machen. İbrahim ging mit den Kindern zum Hof hinaus, und als sie das Tor hinter sich ließen, folgte ihnen Nərgiz. Sie gingen die schlammige Dorfstraße hinunter, İbrahim vorneweg. Mit den Augen suchten sie alles ab, als ob sie allen Bäumen, allen Steinen, allen Vögeln am Himmel, allen Schlangen und Fröschen auf der Erde sagen wollten, dass man mit jenem Geld tausende Probleme hätte lösen können. Beispielsweise für zwei Monate Zucker, Tee, Butter, Reis, Kartoffeln und zwiebeln kaufen – nicht zu sprechen von einem Paar Schuhe für Murad, Handschuhe und eine Mütze für Məryəm, und wenn man besonders sparsam gewesen wäre, hätte man für Nərgiz noch einen Wollschal anzahlen können.
Unser Geografielehrer wollte nicht, dass Xədicə etwas von diesem bedauerlichen Vorfall erführe. Er wollte sie nicht beschämen, er wollte einer Frau ihres Alters nicht das Herz beschweren. sie trafen sich ohnehin jeden Tag und hatten großen Respekt voreinander. Außerdem war Xədicə Məryəms und Murads Lehrerin. Sie hatte das Geld schon vor langer Zeit geliehen, aber keine Anstalten gemacht, es zurückzuzahlen. İbrahim hatte sich nicht getraut, darüber zu sprechen. Er hätte sich zu sehr geschämt, zu sagen: „Vielleicht erinnern sie sich an das Geld ...“
Einmal hatte er den Entschluss gefasst, dass man in solch schwierigen Zeiten keinem eine Schuld für sechs Monate stunden müsse, sondern sofort um Rückzahlung bitten könne. Aber vergebens. Jedes Mal, wenn er Xədicə traf, sanken seine Hände mutlos herab, seine Mund wurde trocken und er sprach über völlig andere Dinge, beispielsweise über die schulischen Leistungen seiner Kinder, Murad und Məryəm. İbrahim hörte nicht, was Frau Xədicə von den Kindern erzählte, dachte nur an ihre Schulden, wollte nur diesen einen verdammten Satz aussprechen und sagen, dass es schon Winter geworden sei und die Kinder warme Kleidung bräuchten. Er hatte ihn nicht ausgesprochen, er konnte einfach nicht. Dennoch hatte İbrahim unwillkürlich irgendetwas geäußert (oder zumindest schien es ihm so) … entweder war ihm das Wort „Geld“ oder der Begriff „Schulden“ seinen Lippen entschlüpft, das wusste er nicht mehr genau. Nur eines wusste er noch, dass ihm heiß geworden war, dass er rot angelaufen ist, dass es sich angefühlt hatte, als würde der Erdboden sich unter ihm auftun und ihn verschlingen. Doch er schwor sich: zum Teufel! selbst wenn die ganze Welt untergeht, keinesfalls, nie wieder, über die verdammten schulden zu sprechen. Auf Məryəms kleine Hände schwor er, dass er eine Frau dieses Alter nicht beschämen würde, weil das unmenschlich war.
In diesen Gedanken versunken schickte er seine Familie nach Hause und sagte sich: Aus den Augen, aus dem Sinn. Auch seine Verwandten sollten nicht erfahren, dass er Geld verloren hatte. Wenn ihm auf dem Schulweg jemand begegnete, wich er Fragen aus, und fand immer neue Ausreden, damit niemand etwas von dem verlorenen Geld erführe. Da sah ihn der schulwart, der sich freute, ihn zu treffen, und ihm von Weitem zuwinkte und rief: „Komm, komm zu mir, du Mann, so mächtig wie der Kontinent! Ich langweile mich, der liebe Gott hat dich mir geschickt!“ der schulwart, das war Həsənağa, ein magerer und kümmerlicher Mann. Man nannte ihn „den blinden“, weil er sich vor fünf oder zehn Jahren ein Auge mit einem Holzsplitter verletzt hatte, was die Pupille vollständig zerstörte. Dieser Spitzname machte Həsənağa aber nichts aus. Er war sehr schlagfertig, und wie unser Geografielehrer meinte, könne man selbst in Indien keinen solch zungenflinken Menschen wie den blinden Həsənağa finden. Und der wollte auf die Fragen, die er İbrahim stellte, Antworten bekommen:
„Guck mal, Lehrer! Wie kommt es, dass Winde wehen, Regen fällt und die Dämmerung hereinbricht?!“
İbrahim war schon immer der Meinung gewesen, dass Həsənağa wie ein schwachköpfiger Schüler war: Je ausführlicher man ihm etwas erklärte, desto unverständlicher war es für ihn. Wenn er diese Dinge verstehen könnte, würde er sich in den Wassern des Euphrats ersäufen! Den Lehrer İbrahim so niedergeschlagen zu sehen, bekümmerte Həsənağa. Denn, ehrlich gesagt, unser blinder ist kein schlechter Mensch. Er ist großzügig, und wenn man sich in einer schwierigen Situation befindet, hilft er sofort.
„Tut dir etwas weh?“
„Nein.“
„Hast du Streit mit deiner Frau Nərgiz?“
„Nein, nein!“
„Was ist denn los? machst du dir sorgen über die Umweltverschmutzung?“, fragte Həsənağa lachend.
Diesen Satz hatte er einst von İbrahim selbst gehört und sich gemerkt. Ab und zu saßen sie nämlich beieinander und tranken manch ein Schnäpschen. Und wenn sie dann völlig benebelt waren, konnte es sein, dass unser Lehrer nachdenklich wurde und sagte, dass die Umweltverschmutzung das größte Problem der Menschheit sei. Genau dies hatte er zu Həsənağa, dem blinden, einmal gesagt.
Und der blinde hatte damals ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter gemacht und gerufen:
„Um Gottes willen, lassen wir das! Kippen wir uns lieber noch einen hinter die Binde!“
„Xədicə hatte sich von mir Geld geliehen, heute gab sie es mir zurück. Ich steckte es in meine Hosentasche, bin in die Schule gegangen und hab meinen Unterricht gehalten. Als ich nach Hause zurückging, wollte ich unterwegs etwas für die Kinder kaufen, da habe ich gemerkt, dass das Geld weg war. Vielleicht ist es herausgefallen oder sonst wie verloren gegangen ...“ Həsənağa war sprachlos, er blieb wie angewurzelt stehen. Nun tat es ihm leid, einen Spaß gemacht zu haben. Er bemerkte, wie İbrahim vor Aufregung zu zittern begann. Oder war es wegen des kalten Herbstwetters? Həsənağa fasste İbrahim am Arm, brachte ihn zum Wächterhäuschen, machte Tee, und sagte, danach würde er sich besser fühlen und dann könnten sie zusammensuchen gehen. İbrahim trank seinen Tee, ja, er leerte das ganze Glas, aber er konnte sich nicht beruhigen. Sie beschlossen, das Geld in der schule zu suchen. Zuerst suchten sie auf dem Schulhof, dann suchten sie um die schule herum alles ab. Jedes Klassenzimmer einzeln durchforsteten sie. İbrahim berührte jedes Pult mit seiner Hand wie eine Liebkosung, wobei er sich vorstellte, die Schulbänke würden ihm das Geld zurückgeben. Schließlich waren sie müde und setzten sich auf die Treppe. Sie schauten sich an und schwiegen lange. Als Həsənağa die herbstkälte zu spüren begann, sprang er auf und ging in den Keller. Als er zurückkam hatte er etwas Verpacktes unter dem Arm. Er stellte sich vor İbrahim auf:
„Um Gottes willen! mach dir keine Sorgen! Wenn das Geld hier verloren gegangen ist, werden wir es auf jeden Fall finden!“ der Geografielehrer sah mit leerem Blick in das Gesicht des blinden, brachte aber kein Wort heraus. Həsənağa plapperte weiter:
„Als ich neulich ein Klassenzimmer betrat, sah ich den Sohn des kürzlich verstorbenen Səməndər, den dickköpfigen Lakai. Er hatte ein Mädchen geküsst. ich habe sie erwischt, und sie waren völlig perplex. Nachdem der Junge das Mädchen hinausbegleitet hatte, kam er zurück und bat um Entschuldigung, er hätte einen Fehler begangen.
Ich sagte, er brauche sich nicht zu entschuldigen, sondern nur die Wahrheit zu sagen, ob er vorhätte, das Mädchen zu heiraten. Seine Antwort war, ja, das hat er beim Grab seines Vaters geschworen.“
„Wer war denn das Mädchen?“
„Ach, Lehrer, stell nicht so viele Fragen! es wäre besser, wenn du mich fragen würdest, was danach passierte.“
İbrahim schwieg. Həsənağa fuhr fort, während er das Bündel aus dem Keller hinstellte.
„Am übernächsten morgen kam der Junge zu mir und sagte: Onkel Həsənağa, ich habe dir Wodka mitgebracht. Mein Bruder hat meinem Onkel ein paar Flaschen aus Tjumen geschickt, davon habe ich eine für dich abgezweigt.“
Langsam ging es İbrahim besser und er bekam gute Laune. Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte dabei mit den Fingern geschnippt und getanzt, und dabei viel Staub aufgewirbelt. Obwohl Həsənağa ein Plappermaul war, war er doch, wie bereits erwähnt, ein guter Mensch. Er freute sich über İbrahims Wohlbefinden. Sofort ging er zu seinem Wächterhäuschen, und als er zurückgekommen war, sieh mal, was er mitgebracht hatte! zwei große Gläser, einen halben Laib Brot, Käse, Rettich und Radieschen, grüne und rote Paprika, ein halbes Hähnchen, eingemachte saure Kirschen, Auberginen und Pflaumen.
„Auf dein Wohlbefinden, Lehrer! Auf das Wohl von Murad, Məryəm und Nərgiz!“ sie stießen an, İbrahim brummte etwas und war rundum zufrieden. Danach schloss er seine Augen, neigte den Kopf und leerte sein Glas in einen Zug. Der Wodka gab İbrahim tiefe Zufriedenheit, und er spürte, wie etwas in ihm zu blühen begann. Sein Herz hüpfte vor Freude, und es wurde ihm ganz warm. Er lächelte. Er freute sich so sehr, als wäre sein Murad heute geboren, als strömte plötzlich frisches Wasser in die alte Mühle, als … Während İbrahim den Wodka aus Tjumen trank, musste er an Baku denken und an seine ehemaligen Mietwohnungen in Alatava, Chutor und Sovetskiy, die er sehr gemocht hatte. Er dachte an die dürftigen Studentenpartys, die sie damals veranstaltet hatten. Längst hatte er jene schönen Tage auf der anderen Seite der berge zurückgelassen. Das Wasser des Flusses, das in Richtung ferner Hütten floss, hatte die süßen Erinnerungen fortgespült. Zu jener Zeit konnte man glücklicher sein als die Sonne am Himmel und die Menschen auf Erden. Zu jener Zeit musste sich der junge, magere Student noch nicht um Murads Schuhe, Məryəms Handschuhe und Mütze und um Nərgizʼ Wollschal kümmern. Und vor allem nicht um das Geld für zwei Monate Zucker, Tee, Butter, Fleisch, reis, Kartoffeln und zwiebeln. „Ach Lehrer, was ist los mit dir?“ İbrahim schwieg.
„Lehrer! hörst du mich? du!“
Wieder keine Antwort.
„Weinst du?“ Həsənağa packte den Geografielehrer an den Schultern, zog ihn an sich und umarmte ihn. dann zündete er eine Zigarette an und reichte sie İbrahim. Kopf an Kopf rauchten sie. Da bemerkte der blinde, dass İbrahim tatsächlich zu weinen begonnen hatte. Həsənağa wollte die Situation etwas entspannen und fragte den Lehrer:
„Wie kommt es, dass Winde wehen, Regen fällt und die Dämmerung hereinbricht?“ da sprang İbrahim auf, packte den blinden am Kragen, zog ihn dicht an sich, starrte in seine zerstörte Pupille und schrie:
„Verspottest du mich, du alter Kuppler?“ selbst der Nieselregen, der vor den Fensterscheiben der Hütte tänzelte, war von İbrahims schrei erschrocken, und die Wodkaflasche bekam einen Sprung. „Lass mich los, Lehrer!“
„Du alter Kuppler, willst du mich wieder verspotten?“
„Was sind das für Worte, mein Lehrer?“
„Hast du es gefunden und versteckt?“ Həsənağa schwieg. Er war sprachlos. Am nächsten Morgen schämte sich İbrahim, zuerst vor Nərgiz. Auch Məryəm und Murad konnte er nicht in die Augen schauen. zu seinem Verdruss schwieg Nərgiz und bewegte sich durch die Wohnung wie ihr eigener Schatten. das schamerfüllte schweigen bedeckte den Boden und die Wände. Selbst als die Kinder es brechen wollten, war kaum etwas zu vernehmen. So etwas hatte İbrahim noch nicht erlebt. Er fand für seine schweigende Frau, die ihn immer so liebevoll umsorgte, einfach keine beschwichtigenden Worte. Die schwere Last der sorgen, die zwischen ihnen stand, war nicht mit einem spaß zu vertreiben. İbrahim fiel der Streit mit Həsənağa ein. zugleich erinnerte er sich daran, wie er seine Frau bei der Heimkehr angeschrien hatte. Sie konnte er danach irgendwie trösten und die Kinder würden auch sicherlich vergessen, wie er sie geschimpft hatte. Aber wie könnte er jemals Həsənağa wieder ins Gesicht schauen?
Während er nach Antworten auf seine Fragen suchte, klingelte das Telefon. Er bekam Herzklopfen. Wer konnte das sein?
„Hallo ...“ beim Telefonieren erstrahlte İbrahims Gesicht vor glück und er vergaß alles, was gestern geschehen war. bestens gelaunt sprach er mit lauter Stimme und ging dabei auf und ab. Er war überglücklich! Die Wohnung schien ihm zu eng, er lief die Treppe hinunter in den Hof, dort ging er hin und her und hörte nicht auf zu lachen. Als er Nərgizʼ fragende Blicke sah, strahlte er sie an wie ein Kind und sagte:
„Azər hat uns alle zur Beschneidung seines Sohnes eingeladen. Wir werden alle zur Feier nach Baku fahren.“ Als İbrahim merkte, dass Nərgiz nicht reagierte, sondern genauso sorgenvoll wie zuvor schaute, begann er, Süßholz zu raspeln. er sagte, Azər sei sein bester Freund in der Studienzeit gewesen. er sei ein Mensch, für den er seine Hände ins Feuer legen würde. Nərgiz solle sich daran erinnern, wie Azər mit seiner Frau ins Dorf gekommen war, als Murad geboren wurde. und als Məryəm zur Welt kam, hatte er für sie ein Paar Ohrringe und etwas Kleidung geschickt. Pausenlos redete İbrahim weiter, und Nərgiz verwandelte sich in ein stehendes Fragezeichen: „Womit willst du fahren, von welchem Geld? Wie?“ İbrahim musste schlucken. er hörte, wie die Truthähne kollerten, wie der Hahn krähte und die Ente schnatterte. die Truthähne sagten: „Verkaufe uns!“ die enten sagten: „Uns auch.“ der Hahn sagte:
„Mich auch, mich auch!“ die Weizensäcke im Keller rührten sich: „Vergiss uns nicht!“ sogar Nərgizʼ Ohrringe begannen zu tänzeln: „und wir?“ İbrahim und seine Frau begannen zu lachen. Sie lachten, bis ihnen die Tränen in die Augen traten. das fröhliche Lachen drang durch die Wände der Wohnung nach draußen. Die Hühner, Hennen und Küken stürzten sich auf dieses Lachen, pickten es auf und dann erreichte das Lachen den Fluss und floss in seinem Schoss in die fernen Dörfer, die sich im Herbstnebel verloren. Die Truthähne und enten kamen in Paaren zu Nərgiz, legten ihre Beine in ihre Hände zum Zusammenbinden, damit sie zum Markt gebracht werden können, so Gott will! Nərgiz reute nur den Hahn, weil ohne ihn die Hennen und Küken ohne Aufsicht waren. An diesem Tag verloren die Weizensäcke an Gewicht und sprangen wie von selbst in İbrahims Arme. Unterwegs malte İbrahim sich aus, wie viel er für die Weizensäcke, Truthähne, Enten und Küken bekäme und wie er das Geld einteilen würde.
Darüber hatte er sich so lange den Kopf zerbrochen, bis er müde geworden und eingeschlafen war. Er erwachte erst auf dem Markt und verkaufte alles, was er bei sich hatte. Für alle geplanten Anschaffungen reichte das Geld, außer für ein neues Sakko. Mit seinem alten, abgetragenen Sakko wollte er aber nicht vor seinen Freunden erscheinen. Es war völlig zerschlissen. Seit Monaten hatte es unser Geografielehrer nicht geschafft, sich ein neues Sakko zu kaufen. Das alte, abgetragene stück wollte ihn einfach nicht freigeben.
„Wollen wir die Ohrringe verkaufen und von dem Geld für dich ein Sakko kaufen?“ İbrahim war damit nicht einverstanden. Das sei eine Schande, um Gottes willen!
„Welche Schande?“, fragte Nərgiz, doch İbrahim hörte sie nicht.
Frühmorgens machten sie sich auf den Weg nach Baku. İbrahim freute sich, als er Murad und Məryəm ansah. Sein Herz ging ihm auf, alles erfüllte ihn mit großer Freude. Er hatte die Kleider der Kinder selbst ausgesucht, das Haar seiner Tochter selbst zu einem Zopf geflochten und auch darauf geachtet, dass sein Sohn vernünftig angezogen war.
Und Nərgiz erst! Sie hatte sich so geschminkt, als sei sie nicht die Tochter eines hirten, sondern aus einer vornehmen Familie in der Stadt, die in dieses kleine geduckte Häuschen gezogen war.
Bevor das Meer in Sicht war, war İbrahim die ganze Zeit tief in Gedanken versunken. Er konnte Xədicə nicht aus seinem Gedächtnis verbannen. Und da er dauernd an sie dachte, winkte ihm das Geld wie aus weiter Ferne zu: ich bin da, du hast mich verloren, denk an mich, vergiss nicht! Aber es war İbrahim ohnehin unmöglich gewesen, noch tiefer in Trübsinn zu versinken. Als er schließlich das Meer mit seinen tosenden Wellen in der Ferne erblickte, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Ihm schien, als würden sie von jenen Wellen stürmisch begrüßt. Als freuten sie sich, ihn, Murads Hände und Məryəms Zöpfe wie alte Freunde zu begrüßen. Als İbrahim aus dem Bus stieg, schien die schiere Größe der ganzen Stadt über ihm hereinzubrechen. Er wünschte sich, dass sich seine Arme verlängerten, seine Brust sich weiten könnte, um diese geschäftige Großstadt mit all ihren Mauern und herumeilenden Menschen zu umarmen, an sein Herz zu drücken und zu liebkosen – um diese mauern, diese Menschen, diese stürmischen Wellen in der Ferne ganz leise anzuflehen, dass sie ihn um Gottes willen nicht wieder ins Dorf gehen lassen, da er sich dort zu Tode langweilte. Aber er sagte es nicht. Er fürchtete, in Tränen auszubrechen. Alle treuen Freunde aus der fernen Studienzeit waren gekommen. Sie hatten sich seit Langem nicht gesehen. Sie umarmten und drückten sich. Stunden später waren nur noch Azər und seine engsten Freunde übrig. Der Wodka wurde immer besser und die Erinnerungen immer süßer. İbrahim hatte das Dorf, das Haus und die schule vergessen. Er wurde nicht müde zu reden. Er brachte Trinksprüche aus und erzählte alte Geschichten. So schwelgten alle im unvergessenen Glück der vergangenen Studienzeit. Dann bestellte İbrahim eine kleine Musikkapelle und lud seine Freunde zum Tanzen ein. Alle tanzten sie! Auch İbrahim! Aber der tanzte anders. Es waren nicht mehr seine Arme, nicht mehr seine Beine, die tanzten: alles im Restaurant, die Wände, die Decke, die Tische, die Stühle waren wie gebannt von den Bewegungen unseres Geografielehrers. İbrahim zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Danach, als er sein Sakko ausgezogen und über den Tisch geworfen hatte, flüsterte Nərgiz ihm etwas ins Ohr und stieß ihn heimlich an. Sie befürchtete, diesmal könnte er wieder seine Schuhe ausziehen und sein ganzes Geld, das er mit den Truthähnen, Enten und Weizensäcken eingenommen hatte, den musikanten schenken und dabei das Lied grölen:
„Mein Schatz Nərgiz, meine Nərgiz ...“ das hatte er schon zweimal bei Hochzeiten im Dorf gemacht. Nərgiz fürchtete sich davor. Als sie sah, wie sich İbrahims Füße auf den Weg zu den Musikanten machten, fasste sie ihn noch rechtzeitig am Arm und begann, leise auf ihn einzureden. Das ernüchterte İbrahim. Ihm schien, als perlte aus dem Munde seiner Frau Weizen, als kollerte sie wie ein Truthahn, als quakte sie wie eine Ente. Er ging zurück zu seinem Tisch, drückte Zitrone in sein Wodkagläschen und leerte es in einem Zug. Dann umarmte er die Menschen, die um ihn standen, umschlang sie, drückte sie fest an sein Herz und wollte laut ausrufen:
„Lasst mich um Gottes willen nie wieder ins Dorf zurück, weil ich mich dort zu Tode langweile.“ Er sagte es aber nicht, weil er fürchtete, in Tränen auszubrechen. Als die Herbstsonne zum Fenster hereinschien, War İbrahim wieder gut gelaunt. er hatte schon vor der Abfahrt nach Baku seinen Kindern versprochen, mit ihnen einen Ausflug in die Stadt zu machen. er würde ihnen Baku, den Mädchen Turm, den Zoo zeigen und auch mit ihnen Karussell fahren. Da tauchte auch schon Nərgiz auf und sagte:
„Machen wir mit den Kindern eine Spazierfahrt, dann können wir dir auf dem Rückweg im Einkaufszentrum, „Sədərək“ ein Sakko kaufen.“
„Meinst du denn, dass wir genügend Geld übrighaben?“
„Es wird reichen, wenn du das Geld nicht unnötig ausgibst. Wir können zuerst eine Stunde spazieren gehen, dann losfahren.“
İbrahim sah zuerst seine Frau an, dann sein Sakko und wollte sagen:
„Jawohl, mein Schatz!“ er sagte aber nichts, weil er befürchtete, er könne sein Wort nicht halten. sie stiegen in der U-Bahn-Station „İçərişəhər“* aus und gingen hinunter zur Uferpromenade. Dort liefen Kinder herum. Diese erinnerten ihn an seine eigenen Schüler, als ob er nicht der Mann sei, der sich im Dorf nach der Stadt sehnte. Wahrscheinlich vermissten ihn seine Schüler. Er wusste genau, dass sie ihn immer vermissten. Sobald er ins Dorf zurückgekehrt war, würde er sie fragen: „Wer kann mir sagen, welche Stadt die Hauptstadt von Rom ist?“ und die Kinder werden wie aus einem Munde, voller Freude antworten, dass Rom selbst die Hauptstadt sei, und zwar die von Italien. der Spaziergang hatte sie völlig erschöpft. Als sie sich von der Altstadt aus in Richtung Meer wandten, roch es nach Döner. Frühmorgens hatte İbrahim nur eine Flasche Wasser geleert und nun knurrte ihm der Magen. Wie an einer Angel zog es ihn zum Restaurant. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Dort, an der Tafel, stand „Iskender Döner“ geschrieben. „Wie gut es
* İçərişəhər – wörtlich „innere Stadt“, die mittelalterliche Altstadt Bakus.
_____________________________________________________________________________________________
riecht!“, sagte Məryəm. Murad stimmte ihr zu. „Kommt, ich kaufe Döner für uns!“, sagte Ibrahim. Nərgiz fasste ihn am Arm und flüsterte:
„Es scheint hier teuer zu sein. Lass uns nicht hineingehen!“
Keine Antwort.
„Hörst du?“ „Ja …“
„Gehen wir!“
„Die Kinder haben Hunger.“
„Im Bahnhof gibt es Kartoffelkuchen. Außerdem können wir Süßigkeiten und Wasser kaufen.“ „Komm doch!“
„İbrahim!“
„Komm schon!“
„Um Gottes willen! du wirst das Geld ausgeben, das du für das Sakko brauchst.“
„Zum Teufel mit dem Sakko! die Kinder haben Hunger!“ İbrahim öffnete die Tür zum Restaurant und trat erhobenen Hauptes ein. Eine schöne Frau und ein eleganter Kellner empfingen sie herzlich. Sie nahmen Platz, reichten einander die Speisenkarte, als ob sie etwas wählen wollten.
„Iskender?“
„Ja.“
Dazu für jeden ein Glas Ayran. Zuerst bekamen sie ihren Ayran. Danach stellte der Kellner Döner auf großen Tellern auf den Tisch. Er ging fort und kam nicht mehr zurück. İbrahim hatte keine Geduld zu warten. Er rief den Kellner und bat ihn leise:
„Kannst du uns auch Brot bringen?“
„Brot?“
„Ja, genau, Brot.“
„Das Brot liegt unter dem Fleisch.“
İbrahim blickte sich verschämt um, ob das vielleicht jemand gehört hätte. Dann dachte er sich, ist doch egal, lass sie doch hören. Er sah den Kellner an und lächelte. İbrahim freute sich zu sehen, mit welchem Appetit seine Kinder aßen. Als Murad den Ayran ergriff und seinen Mund hineintunkte, waren seine Nase und Lippen weiß von dem Joghurtschaum. beinahe hätte unser Geografielehrer seinen Sohn Murad geküsst und wie bei einem jungen Welpen Mund und Nase abgeleckt. Nərgiz behielt recht: das Geld für das Sakko war weg.
Kaum hatten sie nach dem Essen wieder die Uferpromenade erreicht, klingelte İbrahims Telefon. Wer konnte das bloß sein? Həsənağa! Oha! İbrahim war erstaunt und erfreut zugleich. Offensichtlich hatte Həsənağa ihm nichts übelgenommen. Er war schließlich kein boshafter Mensch. Sowohl das Sakko als auch das Geld und Nərgizʼ sorgenvolle blicke waren im nu vergessen.
„Mein lieber Həsənağa!“
„Mein Lehrer …“
„Ja bitte, lieber Həsənağa, geht es dir gut? Schön, dass du mich anrufst.“ er wollte sagen, dass er ihn mit seinem Anruf von der Last der Scham befreit hätte, aber sagte er nichts.
„Lieber Lehrer! Jetzt musst du endlich auf meine Fragen antworten …“
„Frag bitte, Həsənağa …“
„Wie kommt es, dass Winde wehen, Regen fällt und es Nacht wird?!“
Beide mussten lachen, der eine hier, der andere dort. Am letzten Abend hatte İbrahim über den Wind und den regen geredet. dann fragte Həsənağa, wie es käme, dass es schneit, dass es hagelt? Wie es käme, dass die Meere nicht überlaufen und die Berge sich nicht fortbewegen? Was würde geschehen, wenn wir die Erde vollständig durchbohrten? Während İbrahim redete und lachte, sagte Nərgiz den Kindern, dass ihr Vater den Verstand verloren hätte. Dabei lachte sie.
„Heute habe ich Xədicə gesehen“, sagte Həsənağa.
„Wen?“
„Xədicə, die Lehrerin.“ İbrahim war wie vom Donner gerührt. Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Er fragte sich, ob Həsənağa nach ihrem Streit zu Xədicə gegangen war? Nein, nein, so etwas würde er niemals tun.
„Was hat sie denn ge … sagt?“
„Sie hat nach dir gefragt!“
İbrahim brachte kein Wort heraus.
„Sie sagte, dass sie dir etwas schuldig sei, und wenn sie dich sehen würde, würde sie es dir zurückgeben.“
Keine Reaktion.
„Sie sagte, sie wolle das bald tun, da sie sonst das Geld ausgeben würde.
Sie könne nichts im Portemonnaie behalten.“
„Hə…sən…ağa…?!“
„Bei Gott, mein Lehrer!“
İbrahim sagte nichts mehr und schaltete sein Telefon aus. Hatte Xədicə ihm das Geld nicht zurückgegeben? Sie hatte es noch gar nicht zurückgegeben! Plötzlich trat das Meer über die Ufer, bewegten sich die Berge, die Bäume. Die Menschen erschraken von İbrahims rufen. Die Flügel der Vögel am Himmel waren wie gelähmt. Die ausladenden Kronen der Bäume kamen auf ihn zu.
Und İbrahim zog lachend sein altes Sakko aus und warf es mit aller Kraft gen Himmel. Es blieb auf dem Wipfel des Baumes hängen, der ihm zu Hilfe gekommen war. Es flatterte dort und zeigte dem übergelaufenen Meer, den herankommenden bergen und erschrockenen Menschen den Ort, wo İbrahim, Nərgiz, Murad und Məryəm standen.