Kurzgeschichten



Weihnachtswunsch

Da lag er. Die ganze Familie um ihn herum. Ich mitten drin. Alle schauten sie, mit gesenktem Kopf, auf ihn nieder. Es war seltsam ihn da so liegen zu sehen. Der Hals ganz merkwürdig verrenkt, das Gefieder grau vom Ruß. Sein Schnabel so vollkommen verklebt. Das Plastik hielt der Hitze nicht stand. Bei diesem Anblick überkam mich doch fast ein schlechtes Gewissen. Es war schon grausam, ihn einfach ins Feuer zu werfen, ihn in Flammen aufgehen zu sehen und jetzt auf seine Überreste zu blicken. Schon seit meiner Geburt war er an meiner Seite. Gemeinsam lebten wir nebeneinander und miteinander. Mama erklärte mir einmal, der Weihnachtsmann hätte ihn sieben Tage lang, mühevoll gebaut, es sei seine Schöpfung und ein wahrhaftiges Wunderwerk. Doch ich kam in ein Alter, da reichte er mir nicht mehr. Ich wollte mehr, ich wollte Besseres. Ein Vogel aus Stoff, ein Vogel der nichts kann, was sollte der mir schon bringen? Ich wollte den aus der Werbung, den ich steuern kann, wohin er fliegt. Und da ich mittlerweile wusste, dass nicht der Weihnachtsmann mein Vogel erschaffen hatte, sondern Amazon, war klar, dass Mama mit einem Klick, den coolen, neuen Vogel bestellen konnte. Somit sollte mein nächster Weihnachtswunsch das neue fernsteuerbare Modell sein. Doch Mama hätte mir unmöglich diesen Wunsch erfüllt, wenn doch das alte Exemplar an meiner Seite war. Also nahm ich in unserem Garten ein paar Äste zusammen und zündelte mein eigenes kleines Lagerfeuer. Je mehr Holzstücke ich hinein warf, desto größer wurde die Flamme, die anfangs nur still im Unterholz loderte. Als ich den Zeitpunkt sah, schleuderte ich meinen alten Freund kurzer Hand in das stechend aufflackernde Licht. Es knackte, brauste und zischte und das Feuer wurde noch größer, noch mächtiger. Es tobte. Eine kleine Stichflamme schoss empor. Wie gebannt und gänzlich gelähmt starrte ich auf das Drama vor meinen Augen. Im Hintergrund drangen aufgebrachte Stimmen zu mir. Das grelle Funkeln schien auch meine Mutter aus ihrem Mittagsschlaf gerissen zu haben. Mit dem Feuerlöscher versuchte sie das Unmögliche zu retten – doch es war zu spät! Auch meine Geschwister krochen aus ihren Zimmern und bestaunten erschrocken mein Werk. Da lag er. Die ganze Familie um ihn herum. Ich mitten drin. Nach kurzem Schrecken, nach kleinem Entsetzen, beruhigten sich alle wieder und hingen dem alltäglichen Alltagstrott nach. Es sei ein Versehen gewesen, beteuerte ich meiner Mutter. Der Vogel sei mir einfach aus der Hand geflogen. Ich brachte noch die eine oder andere Träne hervor, um mich glaubwürdig zu geben. Mama versprach daraufhin, auf Amazon nach Ersatz zu schauen. Knapp über 100 waren hiervon noch auf Lager und innerhalb eines Tages würde er bei uns eintreffen. Ich schrieb ihn auf meinen Wunschzettel, da Mama darauf bestand. Der neue Vogel, den ich zu Weihnachten auspacken durfte, war wahnsinnig cool. Doch auch hier verlor ich nach einiger Zeit das Interesse und warf ihn wie ein Stück Dreck in die nächste Mülltonne. Denn mir war ja klar, dass ich sowieso ein neues Spielzeug bekommen würde. Diesmal sollte es ein Wal sein, das andere Mal ein Löwe, ich wusste ich konnte sie alle haben, nur ein Klick und sie wären da. Doch dann, ein Jahr darauf, als ich mir zu Weihnachten einen blauen Delfin wünschte, stand der Weihnachtsmann an Heiligabend mit finsterer Miene vor mir. Er las aus seinem goldenen Buch meine Erfolge und meine Schandtaten vor, ich hätte mal wieder meine eigenen Zähne zu selten geputzt und sei mit meinen Spielsachen nicht gut umgegangen. Dieses Blabla musste ich mir jedes Jahr aufs Neue anhören. Darum wartete ich nur ungeduldig darauf, dass er mit seinem Vortrag fertig werden würde, damit ich endlich meine Geschenke erhalte. Doch dieses Weihnachten geschah es anders. Vor versammelter Mannschaft teilte er mir mit, dass er keine Geschenke für mich dabei hätte. Er sagte mit verzweifelter Stimme: „Es gibt keine Delfine mehr auf Lager“. Amazon sei ausverkauft. Nach seinen letzten drei Worten schob sich ein Schleier vor meine Augen. Auch beim Rest der Familie, blieb diese Nachricht nicht ohne Wirkung. Plötzlich erschien mir zwischen all den Tränen das Bild meines alten Vogels. Dort hatte alles seinen Anfang. Wie weit hatte ich es getrieben? Wir waren ein Team, waren Freunde seit meiner Geburt, gingen Hand in Hand durchs Leben und ich warf ihn einfach in das offene Feuer, in die stechenden Flammen, die ihn verschlungen. Ein Feuer, das ich selbst legte, um mehr zu bekommen, als ich besaß. Da lag er. Die ganze Familie um ihn herum. Ich mitten drin. Meine Tränen eine Flut.

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AUTOR:

23 Jahre alt, studiere Germanistik und Philosophie auf Lehramt.
Viel Spaß beim Lesen!


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6 KOMMENTARE



30. September 2020 @ 21:36

gut erzählt, finde ich.

(Theatralisch?
Mach Dir darüber keinen Kopf. Schreiber/innen dramatisieren immer mal wieder in ihren Texten. Das zu erklären, oder
zu rechtfertigen, hieße das Schreiben an sich entschuldigen zu müssen. Das braucht niemand, der sich
über Gott und die Welt Gedanken macht, um es im Stübchen in Worte zu kleiden)

ahoi


30. September 2020 @ 22:09

Lieben Dank!
Deine Worte sind wahr!
Dann lass ich es mal lieber aus meiner Beschreibung raus ;)

Grüße


28. September 2020 @ 20:53

Boiing Angelina natürlich.Hab zu lange gearbeitet und noch Schnitzel im Kopf.


28. September 2020 @ 20:52

Alina,sag ruhig Christian zu mir.
Schönen Abend.
Christian


27. September 2020 @ 16:32

Das ist eine wunderbar geschriebene Geschichte.
Respekt.
Schönen Sonntag noch.
Christian


27. September 2020 @ 16:36

Vielen Dank, das freut mich!
Das wünsche ich Ihnen auch.



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